140 Zeichen hatte ich mit meinem ersten Handy. Jeder Punkt mehr gleich wieder 39 Cent weg. DAS war mal Minimalismus. Mit meiner Freundin habe ich mich dann später nach 20 Uhr zum Telefonieren verabredet, weil es dann erst günstiger und irgendwann dank Flatrate sogar umsonst war. An der Uni habe ich dann später in der Vorlesung zugehört wie über Medienkonsum im Kindesalter gedacht wurde. Damals spannend. Heute überholt. Überspringen wir das.
Nun bin ich Pädagogin, Familientherapeutin, Mutter von vier Kindern und setze mich schon länger mit dem Thema Smartphones für Kinder und Jugendliche auseinander. Tatsächlich eher privat als beruflich motiviert.
Das Internet brennt
Nun mache ich aber nichts ahnend das Internet auf und mir springt ein sehr langes Video einer bekannten Autorin (und Influencerin?) ins Auge. Thema: Nutzung von Smartphones von Kindern und Jugendlichen. Natürlich bin ich interessiert an ihrer Meinung.
Diese, kurz zusammengefasst, fußt auf einem neuen Buch zu dem Thema und besagt: Kein Smartphone unter 14 Jahren, viele Apps erst ab 16 erlauben, Smartphone freie Schulen, vor allem Jungs müssen ihren sexuellen Trieb in der Pubertät nutzen und nicht am Smartphone schnell „befriedigen“. Ja gut, puh.
Das Video wurde sehr oft geteilt und natürlich auch gefeiert. Ganz nach dem Motto „Endlich sagt mal jemand was!“ Ich habe aber ehrlich gesagt ein Problem mit dem Video:
- Mit Angst arbeitet sich halt immer schlecht. Oder gut. Je nach Perspektive.
- Ich dachte schon bei Minute drei, um was geht es hier: Smartphones oder Werbung für das Buch.
- Das Buch an sich.
Das Buch und sein Autor
Fangen wir von hinten an. Das Buch ist geschrieben von Jonathan Haidt, ein US-amerikanischer Sozialpsychologe und Professor. Bei solch einem Titel vermuten wahrscheinlich die meisten von uns Wissenschaftlichkeit, enormes Wissen, Studien, solide Grundlagen, Ernsthaftigkeit, Seriosität und sicher noch mehr in diese Richtung.
„Ideologisch steht Jonathan Haidt ziemlich weit rechts. Viele Menschen aus dem Trump-Lager preisen seine Bücher. Er hat ein Buch über “Cancel Culture” geschrieben, in dem es darum geht, wie “woke” linke Intellektuelle die Demokratie bedrohen, indem sie etwa Rassismus oder Transfeindlichkeit outcallen.“ So Nora Imlau in ihrer Instagram Story über Haidt. Mein Bauchgefühl bestätigt sich also, ich recherchiere weiter. Und die ersten Fragen kommen mir: Wie kann diese kluge Frau, die so viel über das Lernen schreibt, einen solchen Typen schön reden?
Das Spiel mit der Angst
Allein der Titel seines Buches „Generation Angst: Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen“ lässt mich schaudern. Ich mag es einfach nicht, wenn mit Angst gespielt wird. Und hier wird sie ganz klar eingesetzt, damit alle das Buch kaufen. Aus Angst, was Falsch zu machen. Aus Angst, sein Kind an das Smartphone zu verlieren. Denn wir Eltern wollen doch alles nur richtig machen. Nur das Beste für unsere Kinder! Und so ein Bisschen ahnen wir ja auch, dass diese Dinger nicht immer so gut sind…
Angst ist ein starkes Motivationsmittel, das Handlungen beeinflussen kann. Angst kann bewusst eingesetzt werden: Ein Bedrohungsgefühl schaffen (Das Smartphone bedroht unsere Kinder), Hervorheben von Sicherheitslücken (Man weiß ja gar nicht, was die da machen), Dringlichkeit wird erzeugt (im Video wird mehrmals gesagt, dass wir nun alle zusammen halten müssen), Soziale Ängste schüren (dazu gehören, nicht dazu gehören, ein Kind haben, was man verloren hat…).
Durch solche Taktiken wird die Angst der Menschen gezielt angesprochen und verstärkt, um einen Bedarf zu schaffen und sie so z.B. zum Kauf eines Produktes oder einer bestimmten Handlung zu motivieren. Überraschung: Das Buch ist ausverkauft.
Die Gegenthesen
Eine Gruppe Wissenschaftler*innen der Uni Würzburg haben Haidts Buch untersucht und kamen zu fünf Punkten:
- Sein Buch bezieht sich auf die USA. Ja, auch hier in Deutschland haben wir mit der Verschlechterung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen seit Corona zu kämpfen. Wir können da aber nicht eindeutig und einzig die Nutzung des Smartphones als Ursache ausmachen. Auch ist die Suizidrate in diesem Alter seit den 1980er Jahren in Deutschland rückläufig.
- Einen Sündenbock finden ist leicht. Vor 20 Jahren war es der Fernseher. In den 1950er Jahren war es der Rock ´n´Roll, in den 20er/ 30er Jahren der Jazz. Wie einfach es doch ist zu sagen: Smartphones sind Schuld. Dabei ist das Problem viel komplexer. Gerade in den USA kommen ein schlechtes Gesundheitssystem, die Opoid-Krise und noch weitere Faktoren hinzu.
- Er betreibt Cherry-Picking. Er sucht sich also aus der Forschung nur die Studieninhalte raus, die gerade gut zu seinen Thesen passen.
- Für viele Kinder und Jugendliche ist ein Smartphone auch Schlüssel zur Welt. Auch dieser Aspekt muss gesehen werden.
- Das Spiel mit der Angst ist nicht förderlich.
Die umfangreiche Stellungnahme kannst Du hier nachlesen.
Mein Senf als Pädagogin & Familientherapeutin
Du ahnst es wahrscheinlich schon. Ich mag das Spiel mit der Angst nicht. Es bringt einfach nichts. Außer noch mehr Angst und Unsicherheit, kopflose Panik.
Was wir aber brauchen ist: Aufklärung, Information und Begleitung. Kinder brauchen Begleitung, Eltern aber auch. Und Fachkräfte genauso. Darüber noch ein gemeinsamer, konstruktiver Austausch und ich wäre glücklich.
Sind wir doch mal ehrlich: Selbst ich, als studierte, gebildete, Medien offene, Medien konsumierende Frau, weiß nicht über alles Bescheid, was es am Markt so gibt und mit Sicherheit schöpfe ich die Möglichkeiten meines Smartphones noch gar nicht aus. Bin ich zu oft zu lange an dem Gerät? Mit Sicherheit. Aber es steckt mein ganzes Leben darin: Kommunikation mit Freunden und Familie, aber auch mit Klient*innen, Auftraggeber*innen, Kita und Schule. Einkaufen, Bezahlen, Verwalten, Koordinieren. Alles in einem Gerät. Vielleicht liest Du sogar gerade diesen Artikel auf Deinem Smartphone.
Steckt Gefahr hinter dem Konsum? Ja klar. Das mag sicher niemand leugnen. Aber es ist wie mit allem: Ist Schokolade lebensbedrohlich? Nein. Wen ich mich aber ausschließlich von ihr ernähre, könnte es eng werden… Kann mein Kind bei einem Fahrradunfall sterben? Ja. Darf es Fahrrad fahren? Ja. Mit Helm, anfangs in Begleitung, dann kleine Wege allein, erst auf dem Bürgersteig, später im Straßenverkehr. Ich erkläre, begleite, bin da, fange auf, tröste bei kleinen Unfällen.
Ich möchte übermäßigen Smartphone-Konsum, Handysucht, Gefahren im Internet weder klein noch schön reden. Nichts läge mir ferner. Mein Blickwinkel ist eher: Evidenz basierte Daten checken, mich daran orientieren, individuelle Situationen anschauen (egal ob privat oder in einer Beratung) und Angst vermeiden.
Für viele Kinder und Jugendliche ist das Smartphone, das Internet, eine wichtige Kommunikationsquelle. Ein Schlüssel nach draußen. Viele Freizeitaktivitäten wie Musikschule, Sportverein, etc. werden darüber koordiniert. Schulen haben ihre eigenen Apps, mit denen sie mit den Lerneden in Kontakt sind. Die Kinder und Jugendlichen lernen sich selbst zu verwalten, können Stundenpläne einsehen usw. Neben den Gefahren sehe ich hier auch viele Chancen zu wachsen, in Eigenverantwortung, Selbstorganisation, Konfliktmanagement, Resilienz, Medienkompetenz und sicher noch vielem mehr.
Meine Handlungsempfehlungen
Ich würde gerne sagen „Wenn Du es so und so machst, ist Dein Kind sicher.“ – kann ich aber nicht. Es gibt keine Garantie. Das ist das Leben. Auch in anderen Bereichen des Eltern-seins werde ich nach solchen Richtlinien oder 7-Punkte-Plänen gefragt. Hab ich nicht, kann ich nicht. Jede Familie, jede Lebenssituation ist so individuell zu betrachten, so viele Variablen spielen mit rein – da kann es kein „so ist es für alle gut“. Dennoch versuche ich mich an ein zwei Gedanken hierzu:
- Wenn Dein Kind ein Smartphone bekommen soll, sprecht miteinander! Überlegt, welche Apps sind wirklich notwendig, welche eher Spiel und Spaß.
- Startet vielleicht wirklich erst einmal nur mit Nachrichten, Musik hören, einfachen, altersgerechten Spielen.
- Findet gemeinsam raus, was Wlan, mobile Daten, Bluetooth, GPS bedeuten.
- Schaut die Apps gemeinsam an. Welche Funktionen gibt es, was ist wichtig zu wissen. Probiert es zusammen aus.
- Sei neugierig und probier selbst Apps und Spiele aus, damit Du weißt, wovon Dein Kind spricht.
- Kläre über Gefahren auf. Lest gemeinsam Kinder-Sachbücher zu dem Thema. Sei klar, aber nicht angstvoll.
- Schaffe einen vertrauensvollen Raum mit Deinem Kind, damit es sicher sein kann, es kann und darf immer kommen, wenn es Probleme gibt oder etwas sieht, was ihm ungeheuer vorkommt.
- Evtl. sind feste Zeiten erst mal wichtig. Das Smartphone darf nur zu Hause genutzt werden, nur im Beisein von Dir, … oder was zu Euch passt.
- Sprecht über Privatsphäre, Regeln, Umgang mit Fotos, Datenspeicherung, Chaträume, Cybermobbing, Cybergrooming, Kostenfallen, Abos, In-App-Käufe, Kettenbriefe, Fakenews, Discord, Algorithmus, Fake-Namen, … (wenn Du selbst nicht alle Begriffe kennst, wird es Zeit für die Suchmaschine…)
- Ist Dein Kind schon etwas älter und nutzt Soziale Medien wie Instagram, klärt welche Einstellungen wichtig sind, was blockieren und melden bedeutet, wie viel gezeigt werden darf, wer etwas sehen kann, usw.
- Vereinbart eine klare Handyfreie Zone und Zeit. Damit genug Freiraum für anderes bleibt.
- Nehmt Euch immer wieder Zeit gemeinsam zu reflektieren: was klappt richtig gut und macht Spaß, was war sonderbar oder komisch die letzten Tage, wie viel Zeit wurde am Handy verbracht, usw.
- Frag Dein Kind: Was ist Dir wichtig? Was brauchst Du?
Und nun nickst Du wahrscheinlich, weil Du das alles plausibel findest und auch so schon machst oder machen möchtest. Halten wir zusammen kurz einen Moment inne und denken an all die Familien, in denen diese Auseinandersetzung aus welchen Gründen auch immer, nicht möglich sein wird. Für mich bedeutet das: ich mache mein Kind stark und kläre auf, damit es sich selbst behaupten und andere auch unterstützen kann. Und mein Wunsch: Aufklärung, Gespräche, Austausch, Mediensprechstunden an Schulen. Gemeinsam im Gespräch sein, nicht gegeneinander wettern.
Was Kinder brauchen ist meiner Meinung nach Erfahrung und Verantwortung, um sinnvoll mit dem Smartphone und dem Internet umzugehen. Irgendwelche Altersgrenzen festzulegen halte ich für sinnlos und willkürlich. Nehmen wir noch mal das Fahrradfahren. Wenn ich mein Kind vor der Gefahr beschützen möchte und sage, ok, Du darfst erst mit 14 Fahrrad fahren und mit 16 erst alleine ohne mich – wird es dann weniger gefährlich? Nein. Eher tritt der umgekehrte Fall ein. Begleite ich mein Kind schon auf dem Laufrad auf dem Bürgersteig, erkläre wann wir stehen bleiben, wie Ampeln funktionieren und wo besonders gefährliche Ecken sind, lege ich den Grundstein für das sichere Fahren im Straßenverkehr.
Eine gute Bindung, ein sicherer Rahmen, Vertrauen, keine Angst vor Strafen, Klarheit, ohne Angst, sind die Basis für eine gute Begleitung unserer Kinder. Auch im Umgang mit Smartphones.
Noch ein sehr persönlicher Gedanke: ich bin lieber im Gespräch und in Verbindung mit meinem Kind über dessen Smartphone-Nutzung, als dass ich mir darüber Gedanken machen möchte, was es alles heimlich tut und guckt, wenn es bei Freunden ist. Denn das tun sie, da bin ich mir sicher. Hier komme ich mit Vertrauen weiter, als mit Verboten und Angst.
Du hast noch Fragen, Gedanken, Ideen? Oder tolle Literaturtipps für Eltern, Fachkräfte oder Kinder? Schreib es gern in die Kommentare!
Literatur & Links:
Generation Angst: Machen soziale Medien die Jugend psychisch krank? Artikel von der Uni Würzburg
Nur noch 30 Minuten, dann ist aber Schluss! von Patricia Camarata
#nur30min ist ein Podcast, der sich mit dem Thema „Kinder und digitale Medien“ beschäftigt.
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